Das Leben weiss es besser
Das vergangene Wochenende habe ich durchgearbeitet: Trainerausbildung. Montag und Dienstag galt es dann, die anstehenden Anfragen zu beantworten, liegengebliebene administrative Aufgaben zu erledigen und noch schnell an einer Sitzung für ein neues Projekt teilzunehmen. Ab Mittwoch bis Freitag wieder Training: spannend, schön, anspruchsvoll.
Samstag. Ich bin allein. Tausend Sachen stehen an: das Übliche wie Flaschen entsorgen, aufräumen, Zahlungen, aufgeschobene Telefonate – die Liste kann ich beliebig fortführen. Immerhin gönne ich mir einen ruhigen Morgen und einen Cappuchino in der nahegelegenen Bäckerei. Dann warten die Pferde, das eine bewegen, andere putzen und Hufpflege. Am Sonntag ist der zu lange hinausgeschobene Besuch bei meiner Mutter geplant und Projektarbeit, die am Montag abgegeben werden soll.
Es geht mir gut, obwohl so viele Dinge anstehen, ich liebe die Vielfalt. Also begebe ich mich gegen Abend zu den Pferden. Bevor ich den gedeckten Sandplatz nutze, muss er gewässert werden. Ich montiere den Wasserschlauch. Und da spüre ich ihn, den inneren Groll, ich werde wütend und ungeduldig. Grund: Ich sehe mit der aktuellen Brille nicht mehr wirklich scharf. Soll ich sie nun ausziehen – dann klebe ich fast am Wasserhahn, damit ich genügend klar erkennen kann, wie ich nun das Ventil montieren muss. Soll ich die Brille auf der Nase runterschieben und den Balanceakt, dass sie nicht runterfällt in Kauf nehmen? Zudem das Image einer 80-Jährigen (bin ja noch etwas davon entfernt :-)) in Kauf nehmen? Soll ich unseren Mitarbeitenden bitten, mir zu helfen?
Übe dich in Selbstreflexion
Seit bald 3 Jahren kämpfe ich mit meinem Augenlicht. Die Gleitsichtbrille hat nicht funktioniert, die vorgeschlagenen Varianten stimmen nicht für mich. Also schiebe ich das Thema seither vor mich hin und erdulde meinen dadurch oft aufkommenden inneren Groll. Denn stell dir vor: Gebe ich Training, kann ich zwar noch Notizen machen, aber sie lesen ohne die Brille auszuziehen oder über den oberen Rand zu schielen geht nicht mehr. Zieh ich sie aus, sehe ich die Leute nicht mehr scharf. Das Ganze führt zu grotesken Situationen und eben, immer mehr Groll, Nervosität und Ungeduld. Sprich: es raubt mir Energie und Fokus. Hinzu kommen noch immer öfter Kopfschmerzen.
Unsere Triebfedern – Schmerz und Passion
Was hält mich denn zurück, endlich eine neue Brille machen zu lassen? Da sind Ängste und Unsicherheit:
- Gibt es Lösungen, die für mich passen und in mein Leben integrierbar sind?
- Wird mir wieder dauernd schwindlig und kann ich dann meinen Aufgaben nicht nachgehen?
- Vertraue ich meinem Optiker noch? Aber wie finde ich einen anderen, der passt?
Und dann natürlich das uns allen bekannte Thema: Keine Zeit. Wann immer ich einen Schritt ins Auge fasse, wird mir die Agenda gefüllt, geht’s grad doch nicht oder der Satz: es ist ja nicht so schlimm, ich komme ja noch klar. Alles nur Ausreden, denn die Agenda füllt mir niemand, dafür bin nämlich ich verantwortlich und die Ausweichmanöver meiner Gedanken sind Strategien, damit ich das Thema nicht anpacken muss. Offensichtlich ist die Passion, endlich eine neue Brille zu kriegen zu klein und der Schmerz, sprich der Leidensdruck ebenfalls. So einfach ist das. Zugegeben, lange habe ich mich nämlich auch an die Illusion geklammert, dass irgendwann Linsen entwickelt werden, die meine Sehprobleme lösen. An meiner Selbstreflexion kann es also nicht liegen.
Hör dem Leben zu und übe dich in Selbstreflexion
Zurück zum Wasserschlauch am Samstagnachmittag. Ich entscheide mich, niemanden um Hilfe zu bitten. Ich lege also meine Brille auf den Boden, drücke meine Nase so nah wie’s geht zum Ventil und mache mich zu schaffen. Endlich, es gelingt! Schlauch ist dran, Wasser fliesst, der Boden kann gewässert werden. Mein Groll ist verflogen und ich freu mich auf die Arbeit mit den Pferden.
Ich mache mich auf um das Halfter von Rasco zu holen – ein Schritt, ein seltsames Geräusch unter meinem Fuss – ein Blick – und ich sehe meine komplett verbogene Brille, ein Bügel ist abgebrochen: Totalschaden. Einen Moment lang erstarre ich, im zweiten nehme ich ruhig mein Handy hervor und rufe meinen Optiker an. Zum Glück hat er noch einen Termin für Montag. Irgendwo finde ich noch eine alte Brille, diese werde ich nun wohl zwei Wochen lang und sogar in meinem Kurzurlaub tragen müssen. Und über die eingeschränkte Sicht mit der alten Brille lasse ich mich gar nicht erst aus.
Dankbarkeit
Einmal mehr habe ich zu lange meine eigenen Bedürfnisse und mein Wohlbefinden den tausend Dingen, die zu tun sind, untergeordnet. Frag mich nicht, wie lange ich dies noch durchgezogen hätte. Ich habe verpasst, zuerst meine wachsende Nervosität und Ungeduld, dann den Groll und dann die Kopfschmerzen genügend zu beachten. Ich bin dem Leben unheimlich dankbar, dass es mir jetzt diesen Wink mit dem Zaunpfahl geschickt hat, denn plötzlich haben mein Anliegen und ich Platz im Alltag.
Aus diesem Grund kann ich 5 Punkte aufzählen, die das Leben dank deiner Selbstreflexion einfacher machen:
- Achte bereits auf die kleinen Zeichen, die dir das Leben schickt. Vor allem dann, wenn sie sich wiederholen und stärker werden. Dank dieser Selbstreflexion kannst du dir viele Dinge ersparen.
- Hör dir selber zu, so, wie du Menschen zuhörst, die dir am Herzen liegen.
- Frage dich, welche Bedürfnisse hinter deinen Gefühlen stehen und such nach Wegen, diese zu erfüllen.
- Mach dir jeden Tag eine kleine Freude und frag dich am Abend, ob du und deine Anliegen genügend Raum hatten. Wenn nicht, plane diese sehr konkret ein.
- Nimm an, was dir das Leben zeigt, es sind wunderbare Chancen, zu lernen und zu wachsen.